Die Sache mit der Selbstliebe

Wieso ich damit keine Räucherstäbchen mehr verbinde und mein Outing nicht bereue

Sie kommt uns immer wieder unter, sei es nun auf den Buchumschlägen neben den strahlenden Portraits diverser Frauen mittleren Alters mit Föhnfrisur oder in Form eines weisen Spruchs auf dem Teebeutel: Selbstliebe. Der heilige Grahl einer gesamten Generation, die sich durch depressive Phasen und Knieprobleme auszeichnet. Ich zähle mich ebenfalls zu dieser Generation und ich sehe es als Privileg, dass uns eine Ausgangssituation geschaffen wurde, die es uns möglich macht, uns so stark und offen mit unserem Inneren Seelenfrieden zu befassen, wie glaube ich keine Generation vor uns. Dass eine Pandemie noch zusätzlich bei vielen für ausreichend Freizeit sorgt, um allein zu Hause nachzudenken, kommt auch noch dazu. 

So habe auch ich mich vor allem in den letzten Wochen und Monaten intensiv mit mir selbst auseinandergesetzt und versucht mich nicht nur wirklich kennen, sondern auch lieben zu lernen.
Ich muss gestehen, ich habe den Begriff Selbstliebe lange kritisch beäugt und auf gleiche Weise die Augen verrollt, wenn mir Bekannte erzählen, dass sie nach ein paar Monaten im Ausland einfach nicht mehr dieselben sind und „schon total automatisch in english thinken“. 
Dass das eine unangebrachte und unnötig schnippische Ansichtsweise ist, habe ich mittlerweile auch verstanden. Wer bin ich, glauben zu können Vronis Auslandsemester zu bewerten und warum verschließe ich mich vor einem essenziellen Begriff wie Selbstliebe, nur weil ich damit eher die nach Räucherstäbchen riechenden und selten besuchten Bücherregale eines Welt Ladens verbinde als eine Grundlage der Persönlichkeitsfindung? 

Ich denke ich muss dazu sagen, mein Zugang zu meiner emotionalen Seite hat sich nicht einfach von einem auf den anderen Tag geändert, nur weil ich Lust darauf hatte. Diverse Umstände haben mich quasi dazu gebracht, mich nicht mehr länger vor dieser Thematik zu drücken. Dazu gehören beispielweise meine diversen Outings (super spaßiger Nebeneffekt am Outen ist, dass einmal nie reicht. Bei mir waren es insgesamt 11 Outings, bevor ich den öffentlichsten Weg auf Instagram gewählt habe, um möglichst viele FreundInnen und Bekannte auf einmal zu erreichen) oder auch eine ordentliche Portion Liebeskummer während Silvester und der Wochen danach. 
Mit ein wenig Abstand betrachtet, bin ich nun aber doch dankbar, dass diese Geschehnisse genau so passiert sind, weil sie enorm viele Emotionen in mir ausgelöst haben, die ich, ein bisher sehr verschlossener Mensch, einfach rauslassen musste. Und ich kann euch sagen, ich habe alles rausgelassen. Ich habe nicht mehr versucht meine Emotionen zu unterdrücken, Rotz und Wasser geheult, Sprachnachrichten in Podcast-Länge an meine Freunde geschickt und mich aktiv dazu entschlossen, meinen Gefühlen Raum zu geben und sie nicht zu verdrängen. Das war für mich eine neue Erfahrung, da ich sonst ein Profi im Verdrängen bin und in mich in den vergangenen Jahren durch diverse Weinregale und Dating-Apps durchprobiert habe, um Ablenkung zu finden (was auf den ersten Blick auch erstaunlich gut funktioniert). Aber hier kommt eine Weisheit, die offensichtlicher nicht sein könnte, aber ich dennoch erst lernen musste, zu akzeptieren: Verdrängung ist leicht, bringt einen aber nicht weiter, sondern staut diverse Probleme nur auf, bis sie einen eines Tages zum Platzen bringen. Ich wollte aber nicht platzen. Daher habe ich mich für eine kontrollierte Dammöffnung entschieden. 

Ich kannte diese Art der Emotionsbewältigung noch nicht und hatte das erste Mal in meinem „erwachsenen“ Leben das Gefühl, vollkommen ehrlich zu sein und mich nicht vor Freunden und Familie aber auch mir selbst zu verstellen. Damit stellt man sich natürlich auch ein Stück weit bloß und macht sich enorm verletzbar, doch ich habe gemerkt: Es passiert nichts Schlechtes, wenn man sich öffnet. Ganz im Gegenteil. Ich denke sogar, es stärkt Freundschaften und den eigenen Charakter enorm, wenn man sich in all seinen Facetten zeigt und diese auch akzeptiert. 

Ich habe mich auf eine völlig neue Art kennengelernt und dadurch gemerkt, dass negative Emotionen keine Schwächen sind. Ich habe auch gelernt, dass Selbstliebe nicht davon abhängig ist, sich ständig gut zu fühlen und auf allen Ebenen zufrieden mit sich zu sein. 
Für mich bedeutet Selbstliebe einen ehrlichen und offenen Zugang zu sich selbst zu haben und alle Facetten der eigenen Persönlichkeit und Befindlichkeit zu kennen und zuzulassen. 
Wenn ich mich also an einem Tag richtig schlecht fühle, weiß ich, das ist ein Gefühlszustand und kein Indiz dafür, dass ich generell unglücklich oder schlecht bin. Dadurch fällt es mir leichter, dieses Gefühl aktiv zuzulassen und mich damit auseinanderzusetzen, warum ich mich gerade so fühle. Diese Art der Kontrolle hilft mir enorm dabei den Kopf nicht in den Sand zu stecken und mich dennoch nicht vor negativen Gefühlsausbrüchen zu drücken. So kann man aus jeder negativen Situation etwas lernen, selbst wenn es nur das Wissen ist, was einen traurig macht und was bestimmte Situationen auslösen, lernt man sich immer wieder ein Stück besser kennen. Mich regt es zum Beispiel enorm auf, wenn mir Menschen das Gefühl geben ich wäre naiv. Doch anstatt mich an diesem negativen Gefühl zu verbeißen, lerne ich, dass ich viel zu viel Wert darauflege, was Menschen von mir denken. Ich weiß, dass ich mich nicht für naiv halte und das sollte mir doch eigentlich reichen. Die Auseinandersetzung mit diesem Gedanken hilft mir, meiner eigenen Meinung über mich selbst mehr Wert zu geben, wo wir wieder bei der guten, alten Selbstliebe wären.

Abschließend kann ich also sagen, dass ich Selbstliebe nicht als ultimatives Liebesgeständnis an mein perfektes, fehlerfreies Ich verstehe, sondern als Prozess mich selbst ohne Filter in allen Gefühlslagen kennenzulernen und daraus immer wieder Neues über mich zu erfahren. Es geht nicht darum, sich selbst als perfekt zu empfinden, sondern sich selbst zuzuhören und zu fühlen. Für mich hat das weniger mit Esoterik zu tun als mit einem rationalen Dialog mit sich selbst. Selbstliebe ist für mich kein Ergebnis, dass man in einem 12 Schritte Programm erreichen kann, sondern eine Einstellung zu sich selbst und ein Prozess, der kein definiertes Ziel voraussetzt. 

Ich möchte hier auch niemandem vorschreiben, wie er oder sie Selbstliebe zu definieren hat, sondern einfach meine persönlichen Gedanken teilen und ermutigen, sich öfter mal aktiv Zeit für die eigene Gefühlslage zu nehmen, denn ich wage zu behaupten, das schadet nie. 
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